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2. Rekonstruktionstechniken für umfangreiche Texte: Wir interpretieren einen Klassiker

John Stuart Mill argumentiert im zweiten Kapitel von Über die Freiheit für ein weitreichendes Recht auf Meinungs- und Diskussionsfreiheit. Bereits in den ersten Zeilen nennt Mill seine zentrale These. Nicht nur eine undemokratische, auch eine demokratische Regierung, die "niemals daran [denkt], ihre Zwangsgewalt anders als in Übereinstimmung mit dem zu gebrauchen, was sie für die Volksstimme hält", darf nicht die freie Meinungsäußerung durch Zwangsgewalt beschränken (wir zitieren mit Sigel "ÜdF" nach der Ausgabe von @SchefczykSchmidtPetri2014 unter Angabe der Seitennummer sowie, falls zutreffend, der Absatznummer im zweiten Kapitel):

::: {.small custom-style="Zitat"}

Die Gewalt selbst ist unrechtmäßig. Die beste Regierung hat nicht mehr Anspruch darauf als die schlechteste. Sie ist ebenso schädlich oder schädlicher, wenn sie im Einklang mit der öffentlichen Meinung geübt wird als im Widerspruch zu dieser. Wenn die gesamte Menschheit einer Meinung wäre und nur ein Einziger hätte eine entgegengesetzte, so verfügte die Menschheit über kein besseres Recht, diesem ein Schweigen aufzuerlegen, als er, wenn er die erforderliche Macht besäße, der ganzen Menschheit. (ÜdF, S.\ 324, 1)

:::

Im Laufe von Über die Freiheit wird deutlich, dass Mill dabei nicht nur Regierungshandeln, sondern auch das Handeln nicht-staatlicher Akteure vor Augen hat. Wir versuchen daher, den Text zu interpretieren als eine Argumentation für die These

\tafel{}

[Zensurverbot]: Es ist falsch, Personen daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern.

\mymnote{Zur Vertiefung}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Liest man das zweite Kapitel im Kontext der weiteren Kapitel von Über die Freiheit, so wird deutlich, dass Mill die These als ein prima facie Verbot versteht, welches Ausnahmen zulässt. Denn das [[Zensurverbot]]{.the} lässt sich präzisier deuten als ein Spezialfall des allgemeinen Prinzips der Nicht-Schädigung, das Mill in der Einleitung als übergeordnetes Beweisziel der Abhandlung ausgibt und demzufolge ``der einzige Zweck, der rechtfertigt, Macht über irgendein Mitglied einer zivilisierten Gemeinschaft gegen seinen Willen auszuüben, der ist, die Schädigung anderer zu verhüten.'' (ÜdF, S. 316)

:::

Mills Argumentation zugunsten der These [[Zensurverbot]]{.the} erstreckt sich über das gesamte zweite Kapitel (ca. 18.000 Wörter) und ist deutlich umfangreicher als die Pro-Kontra-Liste (ca. 700 Wörter), die wir Kapitel\ 1 analysiert haben.

\mymnote{Maxime}

::: {.def custom-style="Definition"}

Einer der ersten Schritte bei der argumentativen Analyse eines umfangreichen Textes sollte darin bestehen, eine strukturierte Inhaltsangabe zu erstellen.
:::

Entsprechend dieser Maxime beginnen wir unsere Analyse des Textes damit, uns einen Überblick über dessen gedankliche Struktur zu verschaffen. Im Abschnitt\ 2.1. erstellen wir eine argumentative Inhaltsangabe und zeigen, welche zentralen Interpretationsfragen sich dabei bereits beantworten lassen. Unsere Textgliederung verwenden wir in Abschnitt\ 2.2., um Mills zentrales Argument für das [[Zensurverbot]]{.the} so zu rekonstruieren, dass der Aufbau des Textes verständlich wird. In den weiteren Abschnitten 2.3.--2.5. analysieren wir zwei ausgewählte Passagen, an denen sich Besonderheiten der Rekonstruktion umfangreicher Texte anschaulich machen lassen. So verdeutlicht die Analyse von Mills epistemischer Argumentation in Abschnitt 2.3. exemplarisch, wie sich eine umfangreiche argumentative Textpassage (a) als dialektische Argumentation, die aus vielen ineinandergreifenden Argumenten besteht, und (b) als dialektische Entwicklung eines einzigen zentralen Arguments interpretieren und rekonstruieren lässt. Schließlich diskutieren wir in Abschnitt 2.3. entlang Mills religionshistorischer Überlegungen, welche argumentativen Funktionen Beispiele besitzen können, und spielen in Abschnitt 2.5. dann verschiedene Interpretationsszenarien durch. In diesem Zusammenhang präsentiere ich ferner einige weiterführende Hinweise zur Rekonstruktion nicht-deduktiver Begründungen.

2.1. Wir verschaffen uns einen Überblick

Das zweite Kapitel in "Über die Freiheit" ist nicht durch Zwischenüberschriften in Unterabschnitte gegliedert. Allerdings gibt Mill an verschiedenen Stellen Hinweise zum Aufbau der Argumentation. Ein erster solcher Hinweis findet sich zu Beginn, gleich nachdem die zentrale These eingeführt wurde:

::: {.small custom-style="Zitat"}

Ist die [unterdrückte] Meinung richtig, so nimmt man [den Menschen] die Gelegenheit, Irrtum durch Wahrheit zu ersetzen; ist sie unrichtig, so verlieren sie, was fast ebenso wertvoll ist, die deutlichere Auffassung und den lebendigeren Eindruck der Wahrheit, die aus der Konfrontation mit dem Irrtum entspringen.

Es ist notwendig, diese beiden Hypothesen gesondert zu betrachten, da ihnen verschiedene Argumentationslinien entsprechen. Wir können niemals sicher sein, dass die Meinung, die wir zu unterdrücken suchen, falsch ist, und wären wir dessen sicher, so wäre ihre Unterdrückung noch immer ein Übel. (ÜdF, S.\ 324f., 1)

:::

Mill will hier zwei Fälle unterscheiden und kündigt an, diese gesondert zu diskutieren. (Allerdings werden die zwei Fälle verschiedentlich charakterisiert, nämlich teils mit Blick auf den faktischen Wahrheitsstatus der unterdrückten Meinung, teils in Bezug auf unseren Wissensstand).

Fall I: Die unterdrückte Meinung ist richtig / wir sind uns nicht sicher, dass sie falsch ist.

Fall II: Die unterdrückte Meinung ist falsch / wir sind uns sicher, dass sie falsch ist.

Einen zweiten Hinweis zur Struktur der Argumentation gibt die abschließende Zusammenfassung des Gedankengangs.

::: {.small custom-style="Zitat"}

Wir haben jetzt erkannt, dass für das geistige Wohlergehen der Menschheit (von dem all ihr anderes Wohlergehen abhängt) die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Meinungsäußerung notwendig ist, und zwar aus vier Gründen, die wir nun kurz rekapitulieren werden.

Erstens, wenn eine Meinung zum Schweigen gezwungen wird, so kann diese Meinung, soweit wir sicher wissen können, doch wahr sein. [...]

Zweitens, selbst wenn die zum Schweigen gebrachte Meinung ein Irrtum sein mag, so kann sie doch, und sehr häufig verhält es sich so, ein Körnchen Wahrheit enthalten [...].

Drittens, selbst wenn die allgemein akzeptierte Meinung nicht nur wahr, sondern sogar die ganze Wahrheit ist, so wird sie doch, sofern [...] sie nicht tatsächlich auch angefochten wird, von den meisten derer, die sie annehmen, nur in der Weise eines Vorurteils aufrechterhalten, mit wenig Verständnis oder Gefühl für ihre vernünftigen Gründe. Und nicht allein dies, sondern, viertens, die Bedeutung der Lehre selbst wird Gefahr laufen, verloren zu gehen oder geschwächt zu werden und ihres lebenswichtigen Einflusses auf den Charakter und die Handlungsweise beraubt zu werden [...]. (ÜdF, S.\ 366, 40-43)

:::

Zerfällt der Gedankengang also in zwei oder aber in vier zentrale Teile?

Im fortlaufenden Text leitet Mill neu beginnende Abschnitte jeweils mit entsprechenden Bemerkungen ein (z.B. "Wir wollen nun zum zweiten Teil der Argumentation übergehen.", ÜdF, S.\ 346, 21). Achtet man insbesondere auf diese Hinweise, ergibt sich als Grobgliederung des zweiten Kapitels folgende Struktur:

\tafel{}

A. Einleitung: Klärung der These und Skizze der Argumentation. 
    [S. 323-325, 1-2]
B. Fall i: Die unterdrückte Meinung ist (möglicherweise) wahr. 
    [S. 325-346, 3-20]
C. Fall ii: Die unterdrückte Meinung ist (sicher) falsch. 
    [S. 346-358, 21-33]
D. Fall iii: Die unterdrückte Meinung ist partiell wahr. 
    [S. 358-365, 34-39]  
E. Schluss: Zusammenfassung der Argumentation und Diskussionsregeln [S. 366-368, 40-44]

Damit spitzt sich das Interpretationsproblem aber weiter zu. Denn diese Gliederung scheint zu keiner der oben zitierten Regieanweisungen zu passen: Eingangs werden zwei Fälle (I und II) unterschieden, abschließend werden vier zentrale Argumente zusammengefasst -- aber der Text selbst gliedert sich in drei Abschnitte (Fälle i, ii, und iii). Wie können wir die jeweiligen Passagen denn dann wohlwollend, als widerspruchsfrei und zueinander passend, interpretieren? (Machen wir uns kurz klar: das Interpretationsproblem entsteht nur dadurch, dass wir das Prinzip des Wohlwollens (siehe S.\ XXX) bereits bei der Strukturierung eines Textes berücksichtigen.)

Erst die Detailgliederung des Kapitels löst dieses Problem auf und gibt uns ein stimmiges Bild. Man erstellt eine Detailgliederung, d.h. ein möglichst feingliedriges tabellarisches Inhaltsverzeichnis eines Textes, indem man nach sorgfältiger und in der Regel mehrfacher (!) Lektüre Abschnitte und Unterabschnitte markiert und mit eigenen, aussagekräftigen Überschriften versieht [s. @BrunHirschHadorn2014, S. 53ff.]. In der folgenden Detailgliederung sind bereits die argumentativen Funktionen der Unterabschnitte angedeutet, soweit diese aus der bloßen Lektüre hervorgehen.

\mymnote{Maxime}

::: {.def custom-style="Definition"}

Dient eine strukturierte Inhaltsangabe der argumentativen Analyse eines umfangreichen Textes, so sollten in ihr -- soweit aus der sorgfältigen Lektüre bereits ersichtlich -- die mutmaßlichen argumentativen Funktionen der jeweiligen Abschnitte kenntlich gemacht werden. Die argumentative Textgliederung ist dabei, ähnlich wie die erste Setzung der zentralen These, eine Interpretationshypothese, die im weiteren Verlauf der Rekonstruktion teilweise modifiziert oder gänzlich verworfen werden kann.

:::

Der erste größere Abschnitt behandelt den Fall I. Dieser Abschnitt zerfällt selbst in zwei Teile: Im ersten Teil (B.1.) entfaltet Mill eine ganz allgemeine Argumentation für seine These, im zweiten Teil (B.2.) diskutiert Mill den Fall der Unterdrückung religiöser Überzeugungen.

\tafel{}

B. Fall I: Die unterdrückte Meinung ist (möglicherweise) wahr. 
   [S. 325-346, 3-20]
    B.1. Allgemeine Argumentation [S. 325-331, 3-10]
        B.1.1. Unfehlbarkeitsargument für Meinungsfreiheit 
        [S. 325, 3]
        B.1.2. Einschub Kulturkritik [S. 325-326, 4]
        B.1.3. Einwand "Praktische Sicherheit" gegen 
        Unfehlbarkeitsargument [S. 326-327, 5]
        B.1.4. Entkräftung des Einwands "Praktische Sicherheit" 
        [327, 6]
        B.1.5. These und Argumentation: Freie Diskussion als 
        Triebfeder epistemischen Fortschritts [S. 327-329, 7]
        B.1.6. Fortschrittsargument für Meinungsfreiheit 
        [S. 329, 8]
        B.1.7. Ausnahmefälle-Einwand und dessen Entkräftung 
        [S. 329-330, 9] 
        B.1.8. Nützlichkeitseinwand gegen Meinungsfreiheit 
        [S. 330, 10]
        B.1.9. Entkräftung des Nützlichkeitseinwands 
        [S. 330-331, 10]
    B.2. Argumentation in Bezug auf Spezialfall religiöser 
    Unterdrückung [S. 331-346, 11-20]
        B.2.1. Einleitende Bemerkungen zur Argumentation 
        [S. 331-332, 11]
        B.2.2. Historischer Fall: Sokrates [S. 332-333, 12]
        B.2.3. Historischer Fall: Jesus [S. 333-334, 13]
        B.2.4. Historischer Fall: Marc Aurel [S. 334-336, 14]
        B.2.5. Feuerprobeneinwand gegen Meinungsfreiheit 
        [S. 336, 15] 
        B.2.6. Erste Entgegenung Feuerprobe [S. 336-337, 16]
        B.2.7. Zweite Entgegenung Feuerprobe [S. 337-338, 17]
        B.2.8. Kritik: Zeitgenössische Fälle der 
        Meinungsunterdrückung [S. 339-340, 18]
        B.2.9. Kritik: Zeitgenössische Formen der 
        Meinungsunterdrückung [S. 341-343, 19]
        B.2.10. Ineffektivität und Schädlichkeit der Unter-
        drückung "ketzerischer" Überzeugungen [S. 344-345, 20]
        B.2.11. Historisches Fortschrittsargument: Epochen 
        geistiger Blüte [S. 345-346, 20]

Der zweite größere Abschnitt ist Fall II gewidmet. Nach kurzen einleitenden Bemerkungen behandelt Mill hier zwei verschiedene Argumentationen: eine epistemische (C.2.) und eine motivationale Begründung (C.3.). Schließlich erörtert er einen gewichtigen Einwand (C.4.).

\tafel{tafel:dg3}

C. Fall II: Die unterdrückte Meinung ist (sicher) falsch. [S. 346-358, 21-33]
    C.1. Einleitende Bemerkung [S. 346, 21]
    C.2. Epistemische Argumentation [S. 346-350, 22-25]
        C.2.1. Argument: Keine Erkenntnis ohne Gründe [S. 346, 22]
        C.2.2. Argument geistiger Vervollkommnung [S. 346-347, 23]
        C.2.3. Geometrie-Einwand und dessen Entkräftung 
        [S. 347-348, 23]
        C.2.4. Argument: Keine Erkenntnis ohne Gegen-Gründe 
        [S. 348-349, 23]
        C.2.5. Einwand "Erkenntnis unnütz" [S. 349, 24]
        C.2.6. Entkräftung des Einwands mit Verweis auf 
        freie Gelehrtendiskussion [S. 349-350, 25]
    C.3. Motivationale Argumentation [S. 350-355, 26-30]
        C.3.1. Argument: Freie Diskussion hält Meinungen 
        lebendig [S. 350-351, 26]
        C.3.2. Illustration und Präzisierung des Arguments am
        Beispiel des Zusammenhangs von religiösen Überzeu-
        gungen und praktischer Lebensführung [S. 351-354, 27-28]
        C.3.3. Historischer Beleg: Lebendigkeit des frühen 
        Christentums [S. 354-355, 29]
        C.3.4. Nützlichkeitsargument: Freie Diskussion schützt 
        vor Unheil [S. 355, 30]
    C.4. Problem der Konsenserzeugung durch epistemischen 
    Fortschritt [S. 355-358, 31-33]
        C.4.1. Einstimmigkeitseinwand: Konsensuale Erkenntnis 
        ist möglich [S. 355-356, 31] 
        C.4.2. Entkräftung des Eistimmigkeitseinwands und 
        Konzession [S. 356, 32]
        C.4.3. Einschub: Diskursive Didaktik als Ersatz für 
        echte Meinungsverschiedenheit [S. 356-358, 33]

Den Fall III (die unterdrückte Meinung ist partiell wahr), der in der anfänglichen Regieanweisung gar nicht unterschieden wurde, führt Mill erst zu Beginn des dritten größeren Abschnitts ein. Im Kern wird dann ein epistemisches Argument präsentiert, illustriert und verteidigt.

\tafel{}

D. Fall III: Die unterdrückte Meinung ist partiell wahr. [S. 358-365, 34-39]  
    D.1. Einleitende Bemerkung [S. 358, 34]
    D.2. Epistemisches Argument: Verbesserung von Überzeugungen 
    durch Ergänzung und partielle Korrektur [S. 358-359, 34]
    D.3. Illustratives Beispiel aus der Ideengeschichte: 
    Rousseau [S. 359-360, 35]
    D.4. Illustratives Beispiel: Parteienwettstreit [S. 360-361, 36]
    D.5. Ausnahmeeinwand "Es gibt ganze Wahrheiten" und dessen 
    Entkräftung am Beispiel der christlichen Ethik [S. 361-365, 37-38]
    D.6. Konzession: Sektierertum als ungewünschte Nebenfolge 
    freier Diskussion [S. 365, 39]

Der Schlussteil, schließlich, gliedert sich wie folgt.

\tafel{}

E. Schluss [S. 366-368, 40-44]
    E.1. Zusammenfassung der Argumentation [S. 366, 40-43]
    E.2. Erörterung der Regeln gelingender Diskussion [S. 366-368, 44] 

Die vier hauptsächlichen Gründe, von denen Mill in der Zusammenfassung E.1. spricht (s. obiges Zitat), finden sich wie folgt im Text wieder. Der erstgenannte Grund bezieht sich auf die in B.1. entwickelte Argumentation. Der zweitgenannte Grund ist das epistemische Argument aus Abschnitt D. Und bei den Gründen, die Mill an dritter und vierter Stelle anführt, handelt es sich um das epistemische bzw. das motivationale Argument aus Abschnitt C. Mill fasst die Argumente also nicht in der Reihenfolge zusammen, in der sie im Text präsentiert werden.

So ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild des Gedankengangs.

2.2. Wir nutzen unsere Textgliederung zur Rekonstruktion des zentralen Arguments

Ganz wesentlich für die Argumentation scheint somit die Unterscheidung der Fälle I, II und III zu sein. Begründungen mit Fallunterscheidungen lassen sich häufig als Schlüsse der Form "Allgemeines Dilemma" rekonstruieren.

\mymnote{Maxime}

:::{.def custom-style="Definition"}

Wird in einer Begründung eine Fallunterscheidung gemacht, so sollte geprüft werden, ob sich die Begründung als "Allgemeines Dilemma" aussagenlogisch rekonstruieren lässt, d.h. als ein Argument der Form

(1) *A* oder *B* oder ... oder *C*.
(2) Wenn *A*, dann *K*.
(3) Wenn *B*, dann *K*.
    ...
(4) Wenn *C*, dann *K*.
----
(5) *K*

:::

Bringen wir das zentrale Fallunterscheidungs-Argument in diese Form, so ergibt sich (durch bloßes Einsetzen) eine erste Rekonstruktion, die nun schrittweise überarbeitet werden kann. Im Bild des hermeneutischen Kleeblatts (siehe S.\ XXX), das diesen Rekonstruktionsprozess veranschaulicht und systematisiert, starten wir im Zentrum des Kleeblatts.

\tafel{}

<Zentrale Fallunterscheidung>

(1) Die unterdrückte Meinung ist (möglicherweise) wahr, oder die unterdrückte Meinung ist (sicher) falsch, oder die unterdrückte Meinung ist partiell wahr.
(2) Wenn die unterdrückte Meinung (möglicherweise) wahr ist, dann gilt: @[Zensurverbot].    
(3) Wenn die unterdrückte Meinung (sicher) falsch ist, dann gilt: @[Zensurverbot].    
(4) Wenn die unterdrückte Meinung partiell wahr ist, dann gilt: @[Zensurverbot].    
----
(5) [Zensurverbot]: Es ist falsch, Personen daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern (ganz gleich worin diese Meinung besteht).

Das ist aber eine völlig missglückte Rekonstruktion. Zunächst: Den Ausdruck "die unterdrückte Meinung" muss man hier als Kennzeichnung einer bestimmten Meinung verstehen, sodass in allen Prämissen auf ein und dieselbe Meinung Bezug genommen wird, wobei das Argument aber offen lässt, um welche Meinung genau es sich handelt. So weit, so gut. Doch nun wird deutlich, dass die Prämissen (2)--(4), deren Dann-Teile universelle Aussagen darstellen, völlig unplausibel sind und die Grundidee der Fallunterscheidung nicht einfangen können -- im hermeneutischen Kleeblatt bewegen wir uns gerade auf der Schlaufe "Prämissen und Konklusion". Machen wir das an Prämisse (2) klar. Vereinfacht gesagt behauptet (2): Wenn eine bestimmte Meinung wahr ist, dann darf keine Meinung (egal ob wahr oder falsch) unterdrückt werden. Das ist abwegig. Im Konsequens sollte natürlich nur über die Fälle geurteilt werden, auf die die Antezedens-Bedingungen zutreffen: Wenn eine bestimmte Meinung wahr ist, dann darf diese bestimmte Meinung nicht unterdrückt werden. Dazu muss das zentrale Argument modifiziert und prädikatenlogisch analysiert werden, womit wir die erste Schlaufe im hermeneutischen Kleeblatt abschließen und uns erneut in dessen Mitte befinden:

\tafel{}

<Zentrale Fallunterscheidung>

(1) Eine unterdrückte Meinung ist i. (möglicherweise) wahr, oder ii. (sicher) falsch, oder iii. partiell wahr.
(2) Wenn eine unterdrückte Meinung (möglicherweise) wahr ist, dann gilt: Jede Handlung, die darauf abzielt, Personen daran zu hindern, frei *diese Meinung* zu äußern, ist falsch.    
(3) Wenn eine unterdrückte Meinung (sicher) falsch ist, dann gilt: ...    
(4) Wenn eine unterdrückte Meinung partiell wahr ist, dann gilt: ...    
----
(5) [Zensurverbot]: Es ist falsch, Personen daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern (ganz gleich worin diese Meinung besteht).

Das Argument ist, genau genommen, noch nicht deduktiv gültig (Schlaufe "Begründungsbeziehung" im hermeneutischen Kleeblatt). Die Prämissen quantifizieren über allen unterdrückten Meinungen, während die Konklusion das Zensurverbot in bezug auf jedwede Meinung (ganz gleich ob unterdrückt oder nicht) behauptet. Tatsächlich können wir die Einschränkungen auf unterdrückte Meinungen in den Prämissen ohne weiteres aufheben. Die Prämissen büßen dadurch nichts an Plausibilität ein.

Ferner hilft uns diese Rekonstruktion, die eingangs diagnostizierte Mehrdeutigkeit der Fallunterscheidung wohlwollend aufzulösen. Denn die Prämisse (1) wird begrifflich wahr (Schlaufe "Prämissen und Konklusion" im hermeneutischen Kleeblatt), wenn wir die Fälle I und II nicht epistemisch charakterisieren und wie folgt präzisieren.

\tafel{}

<Zentrale Fallunterscheidung>

(1) Eine Meinung ist i. gänzlich wahr, oder ii. gänzlich falsch, oder iii. partiell wahr.
(2) Wenn eine Meinung gänzlich wahr ist, dann gilt: Jede Handlung, die darauf abzielt, Personen daran zu hindern, frei *diese Meinung* zu äußern, ist falsch.
(3) Wenn eine Meinung gänzlich falsch ist, dann gilt: ...    
(4) Wenn eine Meinung partiell wahr ist, dann gilt: ...    
----
(5) [Zensurverbot]: Jede Handlung, die darauf abzielt, Personen daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern, ist falsch (ganz gleich worin diese Meinung besteht).

Das so rekonstruierte Argument ist deduktiv gültig (Schlaufe "Begründungsbeziehung" im hermeneutischen Kleeblatt).

\mymnote{Logisch-semantische Analyse}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Die [<Zentrale Fallunterscheidung>]{.arg} realisiert das folgende prädikatenlogische Schlussmuster:

(1) (x): Wenn Fx, dann ( Gx v Hx v Ix )
(2) (x)(y): Wenn Fx & Gx & Jy & Ryx, dann Ky 
(3) (x)(y): Wenn Fx & Hx & Jy & Ryx, dann Ky 
(4) (x)(y): Wenn Fx & Ix & Jy & Ryx, dann Ky
----
(5) (x)(y): Wenn Fx & Jy & Ryx, dann Ky

/*
  | F#:   # ist eine Meinung
  | G#:   # ist gänzlich wahr
  | H#:   # ist gänzlich falsch
  | I#:   # ist partiell wahr
  | J#:   # ist eine Handlung
  | R#•:  # zielt darauf ab, Personen daran zu hindern, 
          frei ihre Meinung, dass •, zu äußern
  | K#:   # ist falsch (verboten)
*/

:::

Außerdem verdeutlicht dieses Argument, wie die verschiedenen Abschnitte des Kapitels argumentativ ineinandergreifen (Schlaufe "Dialektische Funktion" im hermeneutischen Kleeblatt). Jede der Prämissen (2), (3) und (4) spannt eine Teildebatte auf und wird in einem eigenen Abschnitt in Mills Kapitel (nämlich B., C. und D.) gesondert begründet und verteidigt.

2.3. Wir rekonstruieren eine dialektische Argumentation

Die argumentative Detailanalyse eines umfangreichen Textes ist ungleich schwieriger als die Rekonstruktion einer vorgefertigten Pro-Kontra-Liste, in der Argumente bereits auf ihren Kerngedanken kondensiert sind. Welche charakteristischen Probleme sich bei der Detailrekonstruktion eines Textes stellen, und welche Lösungsstrategien es dafür gibt, vergegenwärtigen wir uns exemplarisch anhand der Rekonstruktion der Passagen C.2.1.-C.2.4. (s. Tafel\ \ref{tafel:dg3}).

Das Argument "Keine Erkenntnis ohne Gründe" präsentiert Mill in dem folgenden Absatz (C.2.1.):

::: {.small custom-style="Zitat"}

Es gibt eine Klasse von Menschen (glücklicherweise sind sie nicht mehr ganz so zahlreich wie früher), die denkt, es sei ausreichend, wenn jemand ohne Zweifel anzumelden dem beipflichtet, was sie für wahr halten, obgleich er keinerlei Kenntnis von den Gründen dieser Meinung hat und selbst gegen die oberflächlichsten Einwände keine tragfähige Verteidigung vorbringen könnte. Wenn es solche Personen erst einmal schaffen, dass ihre Überzeugung von Autoritäten gelehrt wird, dann denken sie natürlich, dass nichts Gutes, aber einiger Schaden entstehen könnte, wenn man erlaubte, diese in Frage zu stellen. Wo ihr Einfluss vorherrscht, da machen sie es fast unmöglich, eine hergebrachte Meinung klug und bedacht zu verwerfen, wenngleich sie immer noch voreilig und unwissend zurückgewiesen werden kann. Denn die Diskussion gänzlich auszuschließen ist selten möglich, und wenn der Einstieg in diese erst einmal gemacht worden ist, dann pflegen Meinungen, die sich nicht auf Überzeugung gründen, beim geringsten Anschein eines Argumentes zu weichen. Abgesehen jedoch von dieser Möglichkeit — nämlich anzunehmen, dass die wahre Meinung im Geist wohnt, aber als ein Vorurteil darin wohnt, als ein Glaube, der von Argumenten unabhängig und ihnen gar nicht zugänglich ist — , ist dies nicht die Art und Weise, wie die Wahrheit von einem vernünftigen Wesen erfasst werden sollte. Das heißt nicht, die Wahrheit zu erkennen. Eine Wahrheit, die derart aufgenommen wird, ist nur ein Aberglaube mehr, der sich bloß zufällig an die Worte klammert, die eine Wahrheit aussprechen. (ÜdF, S.\ 346, 22; kursiv GB)

:::

Aus dem Kontext ist klar: Hier soll dafür argumentiert werden, dass eine Meinung, auch wenn sie falsch ist, nicht unterdrückt werden darf. Doch es ist nicht ganz einfach, in dem Text ein Argument für diese Aussage zu entdecken.

In den letzten Sätzen der zitierten Passage wird eine bestimmte Art und Weise der Überzeugungsbildung kritisiert: so sollten vernünftige Wesen die Wahrheit nicht erfassen, es handelt sich dabei gar nicht um Erkenntnis etc. Worin besteht die hier kritisierte Art und Weise der Überzeugungsbildung? Worauf beziehen sich die kursiv gesetzten Wörter "dies", "das" und "derart" im zitierten Text? -- Mutmaßlich kritisiert Mill, eine wahre Meinung zu akzeptieren, obgleich man "keinerlei Kenntnis von den Gründen dieser Meinung hat und selbst gegen die oberflächlichsten Einwände keine tragfähige Verteidigung vorbringen könnte" (siehe auch Vertiefungs-Kasten).

\mymnote{Zur Vertiefung}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Diese Interpretation stößt aber bei genauerer Lektüre des Textes auf Schwierigkeiten. Denn Mill schränkt die Kritik ein:

Abgesehen jedoch von dieser Möglichkeit — [...] — , ist dies nicht die Art und Weise, wie die Wahrheit von einem vernünftigen Wesen erfasst werden sollte.

Die Einschränkung besteht darin, dass Mill "von dieser Möglichkeit" absieht. Die Möglichkeit, von der abgesehen wird, gehört nicht zur von Mill kritisierten Form der Überzeugungsbildung. Der Einschub in Gedankenstrichen erläutert, was mit "dieser Möglichkeit" gemeint ist:

— nämlich anzunehmen, dass die wahre Meinung im Geist wohnt, aber als ein Vorurteil darin wohnt, als ein Glaube, der von Argumenten unabhängig und ihnen gar nicht zugänglich ist —

Das bedeutet nun aber, dass Mill diese Art und Weise der Überzeugungsbildung gerade nicht kritisiert -- entgegen unserer obigen Interpretation. Aber was wird dann kritisiert? Verurteilt Mill vielleicht, Meinungen voreilig und "beim geringsten Anschein eines Argumentes" zu verwerfen? Das hat aber doch nichts mit "Aberglaube" zu tun...

Stößt man bei der argumentativen Analyse eines übersetzten Textes auf derartige Schwierigkeiten, ist es unbedingt empfehlenswert, den Originaltext oder -- in Ermangelung geeigneter Sprachkenntnisse -- eine alternative Übersetzung zu konsultieren!

Im englischen Original heißt es:

[The received opinion] may still be rejected rashly and ignorantly, for to shut out discussion entirely is seldom possible, and when it once gets in, beliefs not founded on conviction are apt to give way before the slightest semblance of an argument. Waving, however, this possibility---assuming that the true opinion abides in the mind, but abides as a prejudice, a belief independent of, and proof against, argument---this is not the way in which truth ought to be held by a rational being.

Im Originaltext ist die Wendung "Waving, however, this possibility" mehrdeutig und kann so verstanden werden, dass sie sich auf den vorher oder auf den anschließend beschriebenen Fall bezieht. Die deutsche Übersetzung, mit der wir arbeiten, löst diese Mehrdeutigkeit zugunsten der zweiten Interpretation auf und erzeugt dadurch überhaupt erst unsere Rekonstruktionsschwierigkeiten. Nehmen wir hingegen an, dass das, wovon abgesehen werden soll, die zuvor erwähnte Unmöglichkeit Diskussionen völlig zu unterbinden ist, so beschreibt der Einschub in Gedankenstrichen genau den Fall, der im Weiteren als irrational und als bloßer Aberglaube kritisiert wird. Folgende Übersetzung macht diese Interpretation transparent.

Denn die Diskussion gänzlich auszuschließen ist selten möglich, und wenn der Einstieg in diese erst einmal gemacht worden ist, dann pflegen Meinungen, die sich nicht auf Überzeugung gründen, beim geringsten Anschein eines Argumentes zu weichen. Ungeachtet dieser Möglichkeit gilt jedoch: anzunehmen, dass die wahre Meinung im Geist wohnt, aber als ein Vorurteil darin wohnt, als ein Glaube, der von Argumenten unabhängig und ihnen gar nicht zugänglich ist, ist nicht die Art und Weise, wie die Wahrheit von einem vernünftigen Wesen erfasst werden sollte.

Im vorliegenden Fall können wir also die Interpretationsschwierigkeit mittels Rückgriff auf den Originaltext ausräumen. Das gelingt aber freilich nicht immer. Häufig sind Unstimmigkeiten und Widersprüche eines Textes nicht bloß der Übersetzung geschuldet. Dann besteht eine wichtige Interpretationsentscheidung darin, festzulegen, welche Textstellen zwecks einer konsistenten Rekonstruktion ausgespart werden.

:::

Damit ergibt sich als erste Rekonstruktion:

\tafel{tafel:keog-1}

<Keine Erkenntnis ohne Gründe>

(1) Eine Meinung ist nur dann rationale Erkenntnis, wenn man die Begründung dieser Meinung kennt und die Meinung gegen Einwände verteidigen kann. 
----
(2) Falsche Meinungen sollten nicht unterdrückt werden.

Das Argument ist so selbstverständlich noch nicht deduktiv gültig. In der zitierten Passage stellt Mill noch zahlreiche weitere Behauptungen auf: dass es eine Klasse von Menschen gibt, die auf Zustimmung erpicht sind, dass solche Leute einen schädlichen Einfluss haben, dass Diskussionen aber niemals gänzlich unterbunden werden können ... Doch keine dieser Aussagen hilft, die Kluft zwischen Prämisse (1) und Konklusion (2) zu überbrücken. All diese Aussagen sind für die Begründung der Konklusion irrelevant und in dieser Hinsicht eine bloße Abschweifung -- sie finden sich daher zu Recht in der Rekonstruktion des Gedankengangs nicht wieder.

\mymnote{Maxime}

:::{.def custom-style="Definition"}

Texte enthalten in aller Regel redundante und argumentativ irrelevante Passagen, in denen bereits rekonstruierte Argumente und Thesen bloß wiederholt oder in denen Aussagen ohne jedwede argumentative Funktion getroffen werden. Es ist zulässig und folgerichtig, solche Passagen in der Argumentanalyse auszusparen. (Einen Textabschnitt als redundant oder irrelevant zu betrachten, ist selbst eine Interpretationsentscheidung, die im Laufe des Rekonstruktionsprozesses revidiert werden kann.)

:::

Wie lässt sich der Schluss auf die Konklusion aber dann reparieren? Unterstellt man die grundlegende Norm, dass rationaler Wissenserwerb möglich sein sollte, so kann das Argument wie folgt verstanden werden:

\tafel{tafel:keog-2}

<Keine Erkenntnis ohne Gründe>

(1) Die Bedingungen, die rationalen Wissenserwerb überhaupt erst möglich machen, sollten erfüllt sein.
(2) Rationaler Wissenserwerb setzt voraus, dass man die Begründung wahrer Meinungen kennt und diese Meinungen gegen Einwände verteidigen kann.
(3) Man kennt nur dann die Begründung wahrer Meinungen und kann diese Meinungen nur dann gegen Einwände verteidigen, wenn falsche Meinungen nicht unterdrückt werden.
--
Kettenschluss und Modus barbara
--
(4) Falsche Meiunungen sollten nicht unterdrückt werden.

Gemäß (2) und (3) ist es eine Bedingung rationaler Erkenntnis, dass falsche Meinungen nicht unterdrückt werden. Mit dem allgemeinen Prinzip (1) folgt daher die Konklusion.

\mymnote{Logisch-semantische Analyse}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Aus (2) und (3) folgt

(3') Rationaler Wissenserwerb setzt voraus, dass falsche Meinungen nicht unterdrückt werden.

Folgende Reformulierung macht transparent, wie (1) auf (3') angewendet werden kann.

(1) Für jeden Sachverhalt S gilt: Wenn rationaler Wissenserwerb voraussetzt, dass S besteht, dann sollte S bestehen.

:::

Gehen wir weiter, zum Unterabschnitt C.2.2. Das [<Argument geistiger Vervollkommnung>]{.arg} wird in einer kurzen Passage umrissen (s. ÜdF, S. 346f., 23).

Passage C.2.2. mit argumentativer Textannotation{width=100%}

Die Markierungen und Randnotizen illustrieren die Methode der argumentativen Textannotation nach @BrunHirschHadorn2014 [S.\ 212f.]. Alle argumentativ relevanten Aussagen werden nummeriert, Konklusionen unterstrichen, Prämissen in spitze Klammern gesetzt. Am Rand notiert man die inferentielle Struktur der Argumentation als Baumdiagramm mit Aussagennummern. In unserem Fall zeigt die Textannotation: hier ist jeder Satz argumentativ relevant. Der so entschlüsselte Text lässt sich leicht in ein deduktiv gültiges Argument bringen.

\tafel{}

<Argument geistiger Vervollkommnung>

(1) Der Verstand und das Urteilsvermögen aller Menschen soll ausgebildet werden.
(2) Verstand und Urteilsvermögen lassen sich am besten üben am Beispiel von Meinungen höchstiger Wichtigkeit. 
(3) Die geeignetste Übung für Verstand und Urteilsvermögen ist die Einsicht in die Gründe seiner Meinungen.
(4) Sollte eine Fähigkeit bei jedem Menschen ausgebildet werden, so sollte jeder die dafür geeignetste Übung an best-geeignetsten Beispielen durchführen.
----
(5) Jeder Mensch sollte die Gründe seiner wichtigsten Überzeugungen einsehen.
(6) Menschen können nur dann die Gründe ihrer wichtigsten Überzeugungen einsehen, wenn falsche Meinungen nicht unterdrückt werden.
----
(7) Falsche Meinungen sollten nicht unterdrückt werden.

Die Zwischenkonklusion (5) folgt aus dem allgemeinen Prinzip (4), dessen Antezedens-Bedingungen mit (1)-(3) erfüllt sind. Aus (5) und (6) folgt die Konklusion (7) dann mit Praktischem Syllogismus (siehe auch logisch-semantische Analyse).

\mymnote{Logisch-semantische Analyse}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Die logische Form der Prämisse (4) wird in der folgenden Reformulierung transparent:

(4) Wenn (i) eine Fähigkeit x bei jedem Menschen ausgebildet werden sollte und (ii) y die dafür geeignetste Übung ist und (iii) sich diese Fähigkeit am besten an Beispielen z einüben lässt, so sollte jeder Übung y an Beispielen z durchführen.

Diese universelle Aussage lässt sich so spezialisieren, dass die Antezedensbedingungen (i), (ii) und (iii) den Prämissen (1), (2) und (3) entsprechen. Daher folgt die Zwischenkonklusion (5) aus (1)-(4) mit Allspezialisierung und Modus ponens.

Der Schluss von (5) und (6) auf (7) ist ein "klassischer" praktischer Syllogismus der folgenden Form.

<Praktischer Syllogismus>

(1) Es ist geboten, dass Sachverhalt Z. /*Zwecksetzungsprämisse*/
(2) Sachverhalt N ist eine notwendige Bedingung dafür, dass Z besteht. /*Notwendigkeitsprämisse*/
----
(3) Sachverhalt N ist geboten.

Schlüsse dieser Form sind (material) deduktiv gültig.

:::

An das [<Argument geistiger Vervollkommnung>]{.arg} schließt bei Mill eine sich über zwei Seiten erstreckende Passage (C.2.3.-C.2.4.) an, in der Einwände und Erwiderungen einander Schlag auf Schlag folgen. Die Kerngedanken dieser verschiedenen Argumente aufgreifend, können wir den dialektisch dichten Abschnitt als eine Gründehierarchie rekonstruieren, deren Aufbau der Textchronologie entspricht.

\tafel{tafel:grdhier-323f}

<Argument geistiger Vervollkommnung>
    <- <Erkenntnis durch Belehrung>: Man kann die Gründe seiner Meinung sehr wohl ohne freie Diskussion einsehen, nämlich indem man über die relevanten Gründe belehrt wird.
        <+ <Geometrie>: Man erwirbt Wissen über geometrische Sachverhalte, indem man die Beweise studiert, ohne eine Gegenposition frei und kontrovers zu diskutieren.
            <- <Sonderfall Mathematik>: Bei der Mathematik handelt es sich um einen Sonderfall, insofern es praktisch keine Einwände, sondern nur Beweise gibt. Bereits in den Naturwissenschaften muss man Pro- und Kontra-Gründe zur Kenntnis nehmen und abwägen; erst recht gilt dies für jede praktische Deliberation.

<Kein Wissen ohne Gegengründe>: Wer zwar die Gründe für eine These kennt, aber nicht imstande ist, die Argumente der gegnerischen Seite zu widerlegen, oder nicht einmal weiß, worin sie bestehen, sollte keiner von beiden Meinungen den Vorzug geben und sich vernünftigerweise eines Urteils enthalten.  
    <- <Belehrung über Gegengründe>: Man kann die Gründe für und Einwände gegen seine Meinungen sowie deren Entkräftungen sehr wohl ohne freie Diskussion einsehen, nämlich indem man über die relevanten Argumente belehrt wird.
        <- <Belehrung ohne Wucht>: Um die Einwände gegen seine Überzeugungen wirklich zu erkennen und deren Gewicht adäquat einschätzen zu können, muss man die "ganze Wucht der Schwierigkeiten fühlen", auf welche die eigene Ansicht trifft. Das setzt voraus, die Einwände in ihrer glaubwürdigsten und überzeugendsten Form kennenzulernen. Und dazu genügt es nicht, die gegnerischen Argumente von seinen eigenen Lehrern zu hören, stattdessen muss man sie von Personen hören, die tatsächlich an sie glauben, die sie im Ernst verteidigen und ihr Äußerstes dafür geben.
    <+ <Holismus-Argument>: Man überschaut nur dann die Erklärungs- und Rechtfertigungsbeziehungen in seinem Überzeugungssystem, man erkennt nur dann, dass Tatsachen, die sich dem Anschein nach widersprechen, miteinander vereinbar sind, und man sieht nur dann, dass von zwei scheinbar gleich starken Gründen dem einen und nicht dem anderen der Vorzug zu geben ist, wenn man neben den Gründen auch die Einwände gegen eine These und deren Entkräftungen kennt. Das setzt voraus, sich beiden Seiten gleichermaßen und unparteiisch zuzuwenden. 

Hier stellen sich nun eine ganze Reihe von Fragen, z.B.: Wie beziehen sich diese Gründe auf die zentrale These des Abschnitts? Welche Verbindungen bestehen zwischen den zwei bisher unverknüpften Teilen der Gründehierarchie? Wie kommt das Argument [<Keine Erkenntnis ohne Gründe>]{.arg} aus Unterabschnitt C.2.1. ins Spiel?

Das sind typische Fragen an eine Gründehierarchie, mit denen wir aus Kapitel\ 1 vertraut sind, und wir wissen, was als nächstes zu tun ist. Nämlich: weitere Thesen und Argumente ergänzen; Konklusionen explizieren und so Gründe in Argumente überführen; dialektische Beziehungen zwischen Argumenten anpassen; einzelne Argumente detailliert rekonstruieren.

Der bisherigen Rekonstruktion liegt die Interpretationshypothese zugrunde, dass Mill in den Unterabschnitten C.2.1.-C.2.4. eine dialektische Argumentation entfaltet, d.h. dass hier verschiedene Argumente vorgetragen werden, die sich stützend und angreifend aufeinander beziehen.

Ein alternativer Interpretationsansatz ist es, in der umfangreichen Passage nicht eine komplexe, in viele Teilargumente zerfallende Argumentation, sondern ein einziges Argument zu sehen, mit dem die zentrale These des Abschnitts sehr differenziert und umsichtig begründet wird und das dialektisch entwickelt wird. Nicht die Argumentation selbst, sondern die Präsentation eines Arguments vollzieht sich im Wechselspiel von Einwand und Entkräftung [s. @betz_theorie_2010, S. 186f.].

Das epistemische Master-Argument für die These, dass falsche Meinungen nicht unterdrückt werden dürfen, stellt sich am Ende der Passage C.2.1.-C.2.4. wie folgt dar:

\tafel{}

<Das epistemische Master-Argument>

(1) Man erkennt höchstens dann, dass eine Meinung gut begründet ist, wenn man die Rechtfertigungs- und Erklärungsbeziehungen innerhalb seines Überzeugungssystems, die für eine bestimmte Meinung relevant sind, überblickt.
(2) Die Rechtfertigungs- und Erklärungsbeziehungen innerhalb seines Überzeugungssystems, die für eine bestimmte Meinung relevant sind, überblickt man nur dann, wenn man sämtliche Gründe, die für und gegen diese Meinung sprechen, kennt und deren Gewicht adäquat einschätzen kann.
(3) Abgesehen von mathematischen Einsichten kennt man nur dann sämtliche Gründe, die für und gegen eine Meinung sprechen, und kann deren Gewicht nur dann adäquat einschätzen, wenn man insbesondere die Einwände in ihrer glaubwürdigsten und überzeugendsten Form kennengelernt hat.
(4) Man lernt Einwände nur dann in ihrer glaubwürdigsten und überzeugendsten Form kennen, wenn man sie von Personen hört, die tatsächlich an sie glauben, die sie im Ernst verteidigen und ihr Äußerstes dafür geben.
(5) Man hört Einwände gegen eine Meinung nur dann von Personen, die tatsächlich an sie glauben, die sie im Ernst verteidigen und ihr Äußerstes dafür geben, wenn diese Meinung frei diskutiert wird.
----
(6) Abgesehen von mathematischen Einsichten erkennt man höchstens dann, dass eine Meinung gut begründet ist, wenn diese Meinung frei diskutiert wird.
(7) Erkennt man nur dann, dass eine Meinung gut begründet ist, wenn diese Meinung frei diskutiert wird, so ist die freie Diskussion dieser Meinung eine Bedingung, die ihre rationale Erkennntis überhaupt erst möglich macht.
(8) Für jede Meinung gilt: Die Bedingungen, die rationale Erkennntis dieser Meinung überhaupt erst möglich machen, sollten erfüllt sein.
----
(9) Abgesehen von mathematischen Einsichten sollten alle Meinungen frei diskutiert werden.

Das Argument ist deduktiv gültig (s. logisch-semantische Analyse). Es vereint zahlreiche Gedanken, die sich in der Gründehierarchie auf verschiedene Argumente verteilen. Und es bringt die argumentative Kernfunktion der komplexen Passage C.2.1.-C.2.4. auf den Punkt.

\mymnote{Logisch-semantische Analyse}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Die Prämissen (1)-(5) sind ineinander verkettete Aussagen über notwendige Bedingungen der Art:

(1) Eine Meinung ist F nur dann, wenn sie G ist.
(2) Eine Meinung ist G nur dann, wenn sie H ist.
    ...

dabei spricht allerdings Prämisse (3) nur über nicht-mathematische Meinungen.

    ...
(3) Eine Meinung der Art non-M ist H nur dann, wenn sie I ist.
(4) Eine Meinung ist I nur dann, wenn sie J ist.
(5) Eine Meinung ist J nur dann, wenn sie K ist.
----
(6) Eine Meinung der Art non-M ist F nur dann, wenn sie K ist.

Da sich aus den Prämissen (1), (2), (4) und (5) sofort die jeweiligen Einschränkungen auf non-M-Meinungen ergeben, folgt (6) per Transitivität allquantifizierter Subjunktion aus (1)-(5).

Dem zweiten Teilargument liegt dann diese gültige Schlussform (der Prädikatenlogik zweiter Stufe) zugrunde:

    ...
(6) Eine Meinung der Art non-M ist F nur dann, wenn sie K ist.
(7) Ist eine Meinung nur F, wenn sie K ist, so ist K selbst, in Bezug auf diese Meinung, eine Eigenschaft der Art *A* .  
(8) Alle Eigenschaften der Art *A* in bezug auf eine Meinung sollten auf diese Meinung auch zutreffen.   
----
(9) Eine Meinung der Art non-M sollte die Eigenschaft K besitzen.

:::

Welcher der zwei Rekonstruktionsansätze -- dialektische Argumentation oder Master-Argument -- liefert die bessere Analyse des Abschnitts C.2.1.-C.2.4.? Das lässt sich gar nicht pauschal beantworten. Denn es hängt erstens davon ab, wie überzeugend sich die zwei alternativen Rekonstruktionen im Detail ausführen lassen und wie gut sie sich in die Gesamtanalyse des Textes einfügen. Dafür ist aber, zweitens, nicht zuletzt ausschlaggebend, welche Ziele man mit der Rekonstruktion überhaupt verfolgt. Ist das Interesse etwa ein rein systematisches, so kann es vorteilhaft sein, die argumentative Quintessenz eines Abschnitts in Form eines einzigen Arguments zusammenzufassen. Versucht man aber, den Aufbau eines Gedankengangs in all seinen Verästelungen nachzuvollziehen, so ist eher die feingliedrige Rekonstruktion des Abschnitts als dialektische Argumentation angezeigt.

2.4. Wir analysieren Beispiele mit Blick auf ihre argumentative Funktion

Beispiele können in Texten ganz verschiedene Funktionen besitzen und demenstprechend lassen sich Textstellen, in denen Beispiele geschildert werden, häufig ganz unterschiedlich interpretieren. Wie wertvoll die genaue Analyse von Beispielen für das argumentative Verständnis eines Textes ist, führen wir uns im Folgenden vor Augen. Im Abschnitt C.3. (s. Tafel\ \ref{tafel:dg3}) bringt Mill detaillierte religionshistorische Beispiele an. Wir werden zunächst sehen, wie diese Beispiele wesentlich zur Klärung des mehrdeutigen [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} beitragen und dessen Rekonstruktion anleiten können. Dabei dienen die Beispiele der Erläuterung eines Arguments. Anschließend legen wir uns die Frage vor, ob die religionshistorischen Fallbeispiele auch eine eigenständige argumentative Funktion besitzen.

Im Unterabschnitt C.3.1. bringt Mill das zweite zentrale Argument für die These, dass die Äußerung und Diskussion falscher Meinungen nicht unterdrückt werden darf (s. Tafel\ \ref{tafel:dg3}). Ausbleibende freie Diskussion ist nicht nur ein "geistiges Übel", wie das epistemische Argument nachweist, sondern auch ein "moralisches Übel" -- ein "moral evil":

::: {.small custom-style="Zitat"}

Tatsache ist jedoch, dass bei Fehlen einer Diskussion nicht nur die Gründe der Meinung vergessen werden, sondern allzu oft auch die Bedeutung der Meinung selbst. Die Worte, die sie zum Ausdruck bringen, hören auf, Ideen anzuregen, oder inspirieren nur zu einem kleinen Teil die Ideen, die sie ursprünglich mitzuteilen bestimmt waren. Statt einer anschaulichen Vorstellung und eines lebendigen Glaubens bleiben nur einige auswendig gelernte Phrasen übrig; oder, falls doch ein Teil bestehen bleibt, dann ist es bloß die Schale und Hülse der Bedeutung, während die feinere Essenz verloren gegangen ist. (ÜdF, S.\ 351, 26)

:::

Die Grundidee lässt sich in erster Näherung als praktischer Syllogismus einfangen:

\tafel{tafel:arg-bed}

<Argument aus der Bedeutung>

(1) Wahre Meinungen sollten Bedeutung haben, Ideen anregen und lebendig sein.
(2) Meinungen haben nur dann Bedeutung, regen Ideen an und sind lebendig, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.
(3) Eine wahre Meinung wird nur dann frei und uneingeschränkt diskutiert, wenn die Äußerung der falschen Gegenmeinung nicht unterdrückt wird.  
----
(4) Die Äußerung falscher Meinungen sollte nicht unterdrückt werden.

Unter logischen Gesichtspunkten ist der Schluss -- entgegen dem ersten Anschein -- nicht trivial (s. logisch-semantische Analyse).

\mymnote{Logisch-semantische Analyse}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Aus den Prämissen (2) und (3) folgt transparent die folgende Zwischenkonklusion (2'), sodass sich die deduktive Gültigkeit von [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} auf die Gültigkeit des folgenden Schluss reduziert (in dem ein Prädikat "ohne Beschränkung der Allgemeinheit" vereinfacht wurden):

(1') Wahre Meinungen sollten Bedeutung haben.
     /* 
       (x): Fx & Gx –> 0Hx 
       F#: # ist eine Meinung
       G#: # ist wahr
       H#: # hat Bedeutung
       0%: Es sollte der Fall sein, dass %
     */
(2') Wahre Meinungen haben nur dann Bedeutung, wenn die Äußerung der falschen Gegenmeinung nicht unterdrückt wird.  
     /* 
       (x): Fx & Gx & Hx –> Ix
       I#: die Äußerung der falschen Gegenmeinung von # wird nicht unterdrückt  
     */
----
(4) Die Äußerung falscher Meinungen sollte nicht unterdrückt werden.

Aus (1') und (2') folgt per "allquantifiziertem praktischen Syllogismus" die Zwischenkonklusion (3'), die sich -- wie unten angegeben -- auf zweierlei Weise analysieren lässt.

(1') ...
(2') ...
----
(3') Für jede wahre Meinungen gilt: Die Äußerung der falschen Gegenmeinung sollte nicht unterdrückt wird.
     /* 
       (x): Fx & Gx –> 0Ix 
     */
     /*
       (x)(y): Fx & Gx & Fy & ¬Gy & Rxy –> 0¬Jy
       R#+: + ist die Gegenmeinung von #
       J#:  die Äußerung von # wird unterdrückt
     */

(3') ist nicht mit der intendierten Konklusion (4) identisch (vgl. "Jeder in einem Atommeiler verbaute Stahlträger darf nicht rosten" vs. "Alle Stahlträger dürfen nicht rosten"). Der Schluss auf (4) macht sich zu Nutze, dass jede falsche Meinung die Gegenmeinung zu einer wahren Meinung ist.

(3')  ...
(3'') Jede falsche Meinungen ist die Gegenmeinung einer wahren Meinung.
     /*
       (y)(Ex): Fy & ¬Gy –> Fx & Gx & Rxy
     */
----
(4)  Die Äußerung falscher Meinungen sollte nicht unterdrückt werden.
     /*
       (y): Fy & ¬Gy –> 0¬Jy
     */ 

Der Schluss aus (3') und (3'') auf (4) ist gültig und beruht auf dem folgenden prädikatenlogischen Schlussprinzip.

(1) (x)(Ey): Ax –> Rxy
(2) (x)(y): Ax & Rxy –> Bx
----
(3) (x): Ax –> Bx

:::

Der Gehalt des Gedankengangs ist in der ersten Analyse, die sich nah am Text orientiert, noch unbestimmt. Was genau meint Mill, wenn er von der Bedeutung, der Lebendigkeit und der Ideen-Anregung spricht? Verschleiert die Mehrdeutigkeit den Gedankengang, verdeckt womöglich gar dessen Schwächen; oder nutzt Mill Mehrdeutigkeit hier geschickt als ein sprachliches Mittel, mit dem die Vielschichtigkeit des Arguments effizient angedeutet werden kann? Um das zu entscheiden, müssen wir die Unbestimmtheit auflösen.

\mymnote{Maxime}

::: {.def custom-style="Definition"}

Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit sind in der Argumentanalyse aufzulösen. Dabei sollte man ausgehend von jeder Option zur Auflösung (d.h., ausgehend von jeder Interpretationsmöglichkeit) gesondert versuchen, den Gedanken wohlwollend zu rekonstruieren. Ergibt sich in keiner Interpretationsmöglichkeit ein gutes Argument, so verdeckt die Unbestimmtheit eine Schwäche der Begründung; ergibt sich je nach Interpretation jedoch ein anderes, gleichermaßen gutes Argument, markiert die Mehrdeutigkeit nur die Vielschichtigkeit des Gedankengangs.

:::

Ein erster Blickwinkel, aus dem man das Argument verstehen kann, ist die sprachphilosophische Perspektive. Demgemäß behauptete Mill, dass Meinungen ohne freie Diskussion genauso wenig Bedeutung wie die sinnlosen Zeichenketten "Kein Wechtfing hat eine Klanse" oder "Gestern war es kälter als draußen" besitzen. Meinungsäußerungen sind nur noch Worthülsen, mit denen keine lebendigen Ideen korrespondieren. Zugespitzt könnte man sagen: Es handelt sich nur noch um Scheinmeinungen.

Doch diese bedeutungstheoretische Rekonstruktion macht nicht verständlich, warum das Argument Mill zufolge zeigt, dass freie Diskussion ein "moralisches Übel" ist, und nicht bloß ein "geistiges". "Moralisch" verwendet Mill hier in einem allgemeinen Sinne von "praktisch, das Handeln betreffend". Und Scheinmeinungen sind zunächst ein geistiges, kein praktisches Problem.

Neben der sprachphilosophischen Lesart lässt sich das Argument allerdings auch psychologisch deuten: Meinungen hören auf, anregend und stimulierend zu sein, wenn man sie nicht frei diskutiert. Hierbei handelt es sich schon eher um ein praktisches Problem.

Das mehrschichtige [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} wird in (C.3.1.) nur kurz präsentiert. Allerdings folgt darauf eine längere Passage (Unterabschnitte C.3.2. und C.3.3.), die die kurz skizzierte, ganz allgemein gehaltene Begründung sehr ausführlich am Beispiel des religiösen Glaubens illustrieren.

::: {.small custom-style="Zitat"}

Unter Christentum verstehe ich hier [...] die Maximen und Gebote des Neuen Testaments. Diese werden von allen bekennenden Christen als heilig erachtet und als Gesetz anerkannt. Und doch ist es kaum zu viel gesagt, dass nicht ein Christ unter tausend seine individuelle Lebensführung anhand dieser Gesetze ausrichtet oder überprüft. [...] Sie glauben sie, wie Leute an etwas glauben, was sie stets gelobt und nie diskutiert gehört haben. Aber im Sinn jenes lebendigen Glaubens, der die Lebensführung bestimmt, glauben sie an jene Lehren nur bis zu dem Punkt, bis zu dem es üblich ist, nach ihnen zu handeln. [...] Diese Lehren haben keinen Einfluss auf gewöhnliche Gläubige, sind keine Macht in ihrem Geist. [...] Wann immer die Lebensführung betroffen ist, sehen sich die Menschen nach Herrn A.\ und Herrn B.\ um, um sich von ihnen anweisen zu lassen, wie weit man im Gehorsam gegenüber Christus zu gehen hat. (ÜdF, S.\ 353f., 28)

:::

Versteht man diese Ausführungen zum religiösen Glauben als Erläuterungen des abstrakten Arguments, so wird deutlich, dass Mill weniger eine sprachphilosophische als vielmehr eine motivationale Lesart vor Augen hat. Denn die hier geschilderten religiösen Überzeugungen, als Beispiele für Meinungen ohne Bedeutung, sind natürlich nicht im engeren Sinne bedeutungslos (wie die Zeichenkette "Kein Wechtfing hat eine Klanse"). Es ist durchaus verständlich, was es heißt, dass man seine Feinde lieben solle. Nein, das charakteristische Merkmal der religiösen Meinungen ist, dass sie keinen Einfluss auf die Lebensführung haben. Die Lebendigkeit und die Bedeutung ("meaning") einer Meinung besteht dementsprechend in ihrer motivationalen Kraft und handlungspraktischen Wirksamkeit.

Fassen wir die Diskussion des religiösen Glaubens in den Unterabschnitten C.3.2. und C.3.3. als Erläuterung und Präzisierung der allgemein gehaltenen Begründung in C.3.1. auf, so spricht viel für eine motivationale Deutung des Arguments. (An dieser Stelle nur andeuten kann ich, dass sich die sprachphilosophische und motivationale Lesart des Arguments in C.3.1. möglicherweise vereinen lassen, da sie vermittels Mills bedeutungstheoretischer und handlungstheoretischer Hintergrundannahmen eng miteinander zusammenhängen [s. @KuenzleSchefczyk2009, S.\ 30ff.]).

Soweit zur klärenden und erläuternden Funktion der Beispiele. Mit Beispielen kann man aber nicht nur illustrieren, sondern auch auf vielfältige Weise argumentieren (s. Vertiefungskasten). Hat Mills ausführliche Diskussion religiöser Überzeugungen also zudem eine eigenständige argumentative Funktion, die über die bloße Klärung des Arguments in C.3.1. hinausgeht?

\mymnote{Zur Vertiefung}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Beispiele können zu ganz verschiedenen argumentativen Zwecken angeführt werden.

Ein Beispiel kann etwa, als Gegenbeispiel, eine allgemeine Aussage widerlegen.

(1) Wickie der Wal ist ein Tier und kann sprechen.
----
(2) Es ist falsch, dass kein Tier sprechen kann. 

Beispiele können auch als Vergleichsobjekte in Analogieargumenten dienen.

(1) Niemand versteht den Plot des letzten Films von D.L.
(2) Dieser Film ähnelt in jeder für seine Verständlichkeit relevanten Hinsicht dem letzten Film von D.L.
----
(3) Niemand versteht den Plot dieses Films.

Oder sie werden als paradigmatische Fälle verwendet.

(1) Norbert kann prädikatenlogisch schlussfolgern.
(2) Hinsichtlich seiner kognitiven Fähigkeiten ist Norbert ein typischer Viertklässler.
----
(3) Viertklässler können prädikatenlogisch schlussfolgern.

Auch in Argumenten a fortiori wird mit Beispielen operiert.

(1) Sirius ist der hellste Stern am Himmel.
(2) Selbst Sirius ist bei Tage nicht zu sehen.
----
(3) Kein Stern ist bei Tage zu sehen.

Diese vier Argumente sind deduktiv gültig bzw. lassen sich leicht um weitere Prämissen ergänzen, sodass dies der Fall ist.

Häufig werden Beispiele allerdings auch angeführt als Belege für eine Aussage, zur induktiven Stützung, als empirische Bestätigung. In einem solchen "Schluss" folgt die Konklusion nicht bereits logisch-begrifflich aus den sie stützenden Prämissen. Inwieweit sich derartige Bestätigungen einer These gleichwohl als deduktive Argumente rekonstruieren lassen -- und welche Alternativen es dazu gibt, verfolgen wir im Weiteren am Beispiel von Mills religionshistorischen Ausführungen. Unsere Frage lautete: Besitzen die religionshistorischen Beispielfälle eine eigenständige argumentative Funktion?

:::

In diesem Zusammenhang ist folgende Textstelle aus Unterabschnitt C.3.3. aufschlussreich, in der Mill die beispielhafte Erörterung religiöser Meinungen vertieft, indem er die Situation des Christentums im 18. Jahrhundert mit der der frühen Christen kontrastiert:

::: {.small custom-style="Zitat"}

Nun können wir aber sehr sicher sein, dass sich die Sache zur Zeit der ersten Christen nicht so, sondern völlig anders verhielt. Wäre es so wie bei uns gewesen, dann hätte sich das Christentum niemals von einer obskuren Sekte verachteter Hebräer zur Religion des Römischen Reiches entwickelt. Als ihre Feinde sagten: »Seht, wie diese Christen einander lieben!« (eine Bemerkung, die heutzutage kaum einer machen würde), hatten diese sicherlich ein viel lebhafteres Gefühl von der Bedeutung ihres Glaubens, als sie es seither jemals gehabt haben. Und diesem Grund ist es wahrscheinlich hauptsächlich geschuldet, dass das Christentum jetzt so wenig Fortschritte in der Ausweitung seines Wirkungsgebiets macht und nach achtzehn Jahrhunderten immer noch nahezu nur auf Europäer und die Nachfahren von Europäern beschränkt ist. (ÜdF, S.\ 354, 29)

:::

Gerade in dieser Gegenüberstellung können die Beispiele nun als historische Belege für das [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} -- und dort insbesondere für die Prämisse (2) -- gewertet werden (s.\ Tafel\ \ref{tafel:arg-bed}). Die Interpretationshypothese, dass die Beispiele eine derartige argumentative Funktion erfüllen, lässt sich prüfen, indem man versucht, den Text entsprechend zu rekonstruieren. Das Argument skizzieren wir zunächst wie folgt:

\tafel{tafel:historischerbeleg-skizz}

<Beleg durch Religionsgeschichte>: Der Glaube der frühen Christen hat ihre Lebensführung bestimmt und ist schließlich zu einer Staatsreligion geworden. Im 19. Jahrhundert hat der christliche Glaube keine motivationale Kraft mehr und breitet sich auch nicht aus. Das bestätigt: Meinungen haben nur dann Bedeutung, regen Ideen an und sind lebendig, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.
    +> <Argument aus der Bedeutung>

Warum bestätigt der religionshistorische Befund die sehr allgemeine These? Wieso besteht eine Begründungsbeziehung zwischen den spezifischen Prämissen und der generellen Konklusion? Solange wir diese Fragen nicht beantworten können, haben wir den Kerngedanken des Arguments letztlich nicht verstanden. Im folgenden Abschnitt untersuchen wir daher genauer, ob die religionshistorischen Fallbeispiele auch eine eigenständige argumentative Funktion besitzen, und rekonstruieren die Überlegung aus Tafel\ \ref{tafel:historischerbeleg-skizz} im ersten Anlauf als einfachen Schluss auf die beste Erklärung. Die Rekonstruktion dieses Arguments als deduktiver Schluss (s. rekonstruktiver Deduktivismus, S.\ XXX) wirft indes Probleme auf. Daran anknüpfend illustrieren wir drei anspruchsvolle und weiterführende Rekonstruktionstechniken, mit denen sich gehaltserweiternde Begründungen, wie etwa die Bestätigung einer Hypothese durch Einzelbelege, angemessen analysieren lassen.

2.5. Wir rekonstruieren einen Schluss auf die beste Erklärung

Wie hängen also im [<Beleg durch Religionsgeschichte>]{.arg} Prämissen und Konklusion zusammen? Zwischen Prämissen und Konklusion scheint jedenfalls eine Erklärungsbeziehung zu bestehen. Die Konklusion erklärt, warum die Prämissen der Fall sind. Diese Einsicht gibt einen Wink, wie die Begründungsbeziehung rekonstruiert werden könnte, nämlich als sogenannter Schluss auf die beste Erklärung. In der einfachsten Form besitzen Schlüsse auf die beste Erklärung zwei Prämissen, die erste Prämisse stellt den zu erklärenden Sachverhalt fest, die zweite Prämisse identifiziert die beste Erklärung der zu erklärenden Tatsache.

\tafel{} ```argdown (1) [Ideengeschichtlicher Befund]: Der Glaube der frühen Christen hat ihre Lebensführung bestimmt und ist schließlich zu einer Staatsreligion geworden; im 19. Jahrhundert hat der christliche Glaube keine motivationale Kraft mehr und breitet sich auch nicht aus. (2) Die beste Erklärung von @[Ideengeschichtlicher Befund] ist, dass Meinungen nur dann Bedeutung haben, Ideen anregen und lebendig sind, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.

Schluss auf die beste Erklärung

(3) [Keine Bedeutung ohne Diskussion]: Meinungen haben nur dann Bedeutung, regen Ideen an und sind lebendig, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.


Die implizite Prämisse (2) ist eine ziemlich starke Behauptung -- und steht sogar im Widerspruch zu Zugeständnissen, die Mill im Text macht. 

::: {.small custom-style="Zitat"}

> Es gibt zweifellos *viele* Gründe, warum [solche] Lehren, die das entscheidende Merkmal einer Sekte sind, mehr von ihrer Lebenskraft bewahren als diejenigen, die allen anerkannten Sekten gemeinsam sind [...]. Aber ein Grund ist sicher der, dass diese besonderen Lehren mehr in Frage gestellt und häufiger gegen offene Leugner verteidigt werden müssen. (ÜdF, S.\ 354f., 29; kursiv GB)

:::

Anstatt zu behaupten, dass das Prinzip [`[Keine Bedeutung ohne Diskussion]`]{.the} die beste Erklärung für den historischen Befund ist, sollte Prämisse (2), um ihrer Plausibilität willen, nur schwächer behaupten, dass [`[Keine Bedeutung ohne Diskussion]`]{.the} _Teil_ einer entsprechenden besten Erklärung ist.

Mit dieser Modifikation wird das rekonstruierte Argument zwar insgesamt glaubhafter, aber immer noch nicht deduktiv gültig. Dazu muss die Schlussregel des Schlusses auf die beste Erklärung als Prämisse eingefügt und der bisherigen Rekonstruktion angepasst werden.    

\tafel{tafel:sadbe1}
```argdown
(1) [Ideengeschichtlicher Befund] 
(2) Bestandteil der besten Erklärung des in @[Ideengeschichtlicher Befund] beschriebenen Sachverhalts ist die Annahme, dass Meinungen nur dann Bedeutung haben, Ideen anregen und lebendig sind, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.
(3) Ist die Annahme, dass A, Bestandteil der besten Erklärung einer Tatsache E, so gilt A. 
----
(4) [Keine Bedeutung ohne Diskussion]: Meinungen haben nur dann Bedeutung, regen Ideen an und sind lebendig, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.

In dieser Rekonstruktion taucht aber eine weitere Schwierigkeit auf: Das als Prämisse (3) ergänzte Schlussprinzip ist unhaltbar, da durch unzählige Gegenbeispiele widerlegt. Verbrennung konnte man sich im 18. Jahrhundert nur unter der Annahme erklären, dass es Phlogiston gibt. Lange Zeit war die beste Erklärung für die Kraterform des Nördlinger Ries die Annahme, dass es durch vulkanische Aktivität entstanden ist. Dass ich im Spiel fünfzehnmal die Eins würfele, kann ich mir nur damit erklären, dass der Würfel nicht fair ist -- dabei war es bloß Zufall. Manchmal ist die zu einem gegebenen Zeitpunkt beste Erklärung falsch und tatsächlich die zweit- oder drittbeste Erklärung richtig.

Es gibt drei Möglichkeiten, auf diese Schwierigkeit zu reagieren:

  • Strategie 1: Verteidigung der Rekonstruktion mit falscher Schlussprämisse,
  • Strategie 2: Abschwächung der Schlussprämisse,
  • Strategie 3: Zwei-Ebenen-Analyse des Bestätigungsschlusses.

Gemäß der ersten Strategie (die Georg Brun erdacht hat) verteidigt man die Rekonstruktion wie folgt: Die Schlussprämisse (3) ist offenkundig falsch. Das macht die Rekonstruktion aber nicht problematisch, insbesondere verletzt die Analyse nicht das Prinzip des Wohlwollens. Vielmehr ist es so, dass wir in zahlreichen Kontexten (und so auch Mill in Abschnitt C.3.3.) offenkundig falsche allgemeine Prinzipien unseren Überlegungen als "Default-Prinzipien" oder "Normalfall-Annahmen" zugrunde legen. Das Schlussprinzip des Schlusses auf die beste Erklärung unterstellen wir, weil dies alles in allem epistemisch zweckmäßig ist und in der Regel zu wahren Konklusionen führt. Und erst wenn andere Argumente gegenläufige Ergebnisse liefern, geben wir die allgemeine Schlussprämisse auf. Die Rekonstruktion in Tafel\ \ref{tafel:sadbe1} ist daher nicht defekt, sondern spiegelt eine Eigentümlichkeit des gehaltserweiternden Argumentierens mit empirischen Befunden wieder.

Demgegenüber gesteht die zweite Rekonstruktionsstrategie zu, dass das Argument modifiziert und die Schlussprämisse abgeschwächt werden muss. Dazu reicht es nicht, die Antezedensbedingungen von (3) zu stärken (z.B.: um die Bedingung zu ergänzen, dass Tatsache E nicht bloßem Zufall geschuldet und erklärungsbedürftig ist). Denn auch gegen so geänderte Prinzipien finden sich Gegenbeispiele, solange im Konsequens behauptet wird, die erklärende Annahme sei wahr. Deshalb muss das Konsequens von (3) modifiziert werden. Anstatt dort zu behaupten, die Erklärung sei wahr, ließe sich etwa sagen, die erklärende Annahme sei wahrscheinlich wahr oder es sei vernünftig, die Erklärung als richtig zu unterstellen.

\tafel{tafel:sadbe2} ```argdown ... (3) Ist die Annahme, dass A, Bestandteil der besten Erklärung einer Tatsache E, so ist vernünftig, A als wahr zu unterstellen.

(4) Es ist vernünftig, als wahr zu unterstellen, dass Meinungen nur dann Bedeutung haben, Ideen anregen und lebendig sind, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.


Mit der Konsequens-Abschwächung von (3) ändert sich aber auch ganz analog die Konklusion des Arguments. Das wiederum heißt, dass die Konklusion nicht mehr mit der Prämisse (2) des [`<Argument aus der Bedeutung>`]{.arg} übereinstimmt und der Schluss auf die beste Erklärung daher jenes Argument -- gemäß unserer Definition dialektischer Beziehungen (Verweis\ XXX) -- gar nicht stützt. Auch das ist allerdings kein unüberwindliches Problem (s.\ Vertiefungskasten).  

\mymnote{Zur Vertiefung}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

Denn vielleicht deutet die Schwierigkeit, auf die wir hier stoßen, nur darauf hin, dass wir die dialektischen Beziehungen in Kapitel 1 (S. XXX) ohnehin zu eng definiert haben. Definiert man hingegen, dass ein Argument\ A ein Argument\ B genau dann stützt, wenn die Konklusion von Argument\ A

(i) mit einer Prämisse von Argument\ B identisch ist _oder_
(ii) in Bezug auf eine Prämisse von Argument\ B behauptet, dass es vernünftig ist, diese Prämisse als wahr anzunehmen;

so stützt der Schluss auf die beste Erklärung das [`<Argument aus der Bedeutung>`]{.arg}. Um die Position eines Proponenten in einer komplexen Debatte zu bewerten, den Begründungsstatus einer These zu bestimmen oder die eigenen Überzeugungen auf Stimmigkeit zu prüfen -- kurz: um die komplexe Argumentation zu evaluieren [siehe etwa @BrunBetzRaU2016, S. 62-67; und @betz_theorie_2010] -- ist es dann geboten, in der Rekonstruktion zwischen der einfachen dialektischen Stützung (i) und der Meta-Stützung (ii) zu unterscheiden.

Allerdings ist diese Erweiterung der dialektischen Beziehungen nicht einmal zwingend geboten, um die Interpretationsschwierigkeit zu beseitigen. Die in Tafel\ \ref{tafel:sadbe2} angeführte Rekonstruktion, gemäß der der Schluss auf die beste Erklärung das [`<Argument aus der Bedeutung>`]{.arg} _nicht_ stützt, lässt sich wie folgt verteidigen: In einem logischen Sinne besteht zwischen dem Schluss auf die beste Erklärung und dem [`<Argument aus der Bedeutung>`]{.arg} tatsächlich keine dialektische Beziehung. Gleichwohl muss, wenn man sich eine Meinung bezüglich der These [`[Keine Bedeutung ohne Diskussion]`]{.the} bildet, der Schluss auf die beste Erklärung genauso zur Kenntnis genommen werden wie ein Stützungsargument, dessen Konklusion mit der These [`[Keine Bedeutung ohne Diskussion]`]{.the} identisch ist. Denn die Konklusion des Schlusses auf die beste Erklärung äußerst sich ja explizit zur rationalen Meinungsbildung bezüglich dieser Aussage. Ganz allgemein gilt, dass eine vernünftige Meinungsbildung bezüglich einer Aussage *p* zweierlei berücksichtigt: erstens alle inferentiellen Beziehungen, in denen die Aussage *p* zu anderen Aussagen steht, sowie zweitens alle Argumente, die für oder gegen normativ-doxastische Aussagen *über* die Aussage *p* sprechen. Rekonstruktionspraktisch bedeutet dies, dass es unproblematisch ist, eine komplexe, vielschichtige Argumentation um die These *p* als zwei miteinander unverbundene Argumentkarten zu rekonstruieren, nämlich

- als eine Argumentkarte (auf der "Objektebene"), in der die Aussage *p* als Prämisse und Konklusion in Argumenten fungiert und die die inferentiellen Beziehungen zwischen der Aussage *p* und weiteren Aussagen expliziert, sowie
- als eine Argumentkarte (auf der "Metaebene") mit Argumenten für und gegen normativ-doxastische Aussagen, die sich zur rationalen Meinungsbildung bezüglich *p* äußern und insofern über die Aussage *p* sprechen.  

Die Evaluation der Argumentation und insbesondere die rationale Meinungsbildung berücksichtigt dann beide Karten.

::: 

Damit zur dritten, oben unterschiedenen Strategie, der Zwei-Ebenen-Analyse des Bestätigungsschlusses. Warum fällt es uns eigentlich so schwer, Mills Diskussion der religionshistorischen Beispiele zu rekonstruieren? Eine Diagnose lautet: Weil wir versuchen, diese Überlegungen als ein Argument rekonstruieren, dessen inferentielle Funktion (abgebildet durch die dialektischen Beziehungen in der Karte) seiner dialektischen Funktion (Begründung einer bestimmten Aussage) entspricht. Vereinfacht gesagt: Wir rekonstruieren die Begründung so, dass die zu begründende Aussage die Konklusion des Arguments ist. Dieses Vorgehen ist üblich und für gewöhnlich auch zweckmäßig, aber eben nicht zwingend. Stattdessen kann man nämlich -- auf der ersten Ebene -- die *inferentiellen Beziehungen*, in denen die Aussagen über die historischen Beispiele stehen, losgelöst von intendierten Begründungsbeziehungen rekonstruieren, ohne dabei problematische implizite Prämissen zu unterstellen. Anschließend lässt sich dann -- auf der zweiten Ebene -- ausmachen, welche (womöglich vielfältigen) *Begründungsbeziehungen* in dem so rekonstruierten inferentiellen Netz bestehen. Setzen wir diese dritte Strategie um! 

Welche unstrittigen, leicht zu rekonstruierenden inferentiellen Beziehungen bestehen zwischen den Aussagen, die uns hier interessieren? Folgen vielleicht aus der allgemeinen These [`[Keine Bedeutung ohne Diskussion]`]{.the} -- bei entsprechender Anwendung auf die jeweilige historische Situation -- die speziellen Befunde, wie die folgende Skizze andeutet?

\tafel{tafel:igbele_grdhr1}
```argdown
[Keine Bedeutung ohne Diskussion]: Meinungen haben nur dann Bedeutung, regen Ideen an und sind lebendig, wenn sie frei und uneingeschränkt diskutiert werden.
    +> <Brückenargument 1>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 1]: Der Glaube der frühen Christen hat ihre Lebensführung bestimmt.
    +> <Brückenargument 2>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 2]: Der Glaube der frühen Christen ist schließlich zu einer Staatsreligion geworden. 
    +> <Brückenargument 3>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 3]: Im 19. Jahrhundert hat der christliche Glaube keine motivationale Kraft mehr.
    +> <Brückenargument 4>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 4]: Im 19. Jahrhundert breitet sich der christliche Glaube nicht aus.

Die Brückenargumente 3 und 4 lassen sich unter Hinzunahme weiterer impliziter Prämissen, die in Einklang mit dem Text stehen, wohlwollend rekonstruieren. Das gilt jedoch nicht für die Brückenargumente 1 und 2; die ideengeschichtliche Befunde zum frühen Christentum folgen nicht einfach aus der These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the}.

In welchen Beziehungen stehen die Befunde 1 und 2 denn dann zur allgemeinen These? Freilich, sie folgen aus der stärkeren These, dergemäß freie Diskussion notwendig und hinreichend für Bedeutung ist. Doch diese These ist inhaltlich fragwürdig und konfligiert mit Mills expliziten Zugeständnissen, weshalb wir sie nicht in die Rekonstruktion aufnehmen.

Um die argumentative Funktion der Befunde 1 und 2 zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen und nochmals zu den Befunden 3 und 4 zurückkehren: Die Befunde 3 und 4 werden -- logisch betrachtet -- nicht nur von der These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} impliziert, sondern natürlich auch von unzähligen weiteren allgemeinen Prinzipien, etwa:

\tafel{}

[Christliche Ethik übermenschlich]: Gemäß der christlichen Ethik zu handeln ist eine motivationale Überforderung und widerspricht den Gesetzen der menschlichen Psyche.

[Mangelnder missionarischer Eifer]: Dem Christentum fehlt es an inhärentem  missionarischem Eifer, ohne den eine Religion nicht zum 'Mainstream' werden kann.

Beide Alternativhypothesen implizieren den Befund\ 3 bzw. den Befund\ 4 -- die Konjunktion der beiden Prinzipien nimmt in der inferentiellen Struktur die gleiche Stellung ein wie Mills These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} und es ist daher nicht ersichtlich, wie die Gesamtargumentation zwar für die intendierte These aber nicht für die alternativen Prinzipien spricht.

Hier treten nun Befund 1 und 2 auf den Plan. Denn diese zwei ideengeschichtlichen Befunde widersprechen den Alternativprinzipien [[Christliche Ethik übermenschlich]]{.the} und [[Aggressor verdrängt Pazifist]]{.the}. Unter geeigneten, plausiblen Zusatzprämissen folgt aus den Prinzipien die Negation des jeweiligen Befundes. Die historischen Beispiele falsifizieren die Alternativprinzipien (gegeben geeignete Hintergrundannahmen). Es ergibt sich als dialektische Struktur:

\tafel{tafel:igbele_grdhr2}

[Keine Bedeutung ohne Diskussion]
    +> <Brückenargument 3>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 3]
    +> <Brückenargument 4>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 4]

[Christliche Ethik übermenschlich]
    +> <Brückenargument 5>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 3]
    +> <Brückenargument 6>
        -> [Ideengeschichtlicher Befund 1] 

[Mangelnder missionarischer Eifer]
    +> <Brückenargument 7>
        +> [Ideengeschichtlicher Befund 4]
    +> <Brückenargument 8>
        -> [Ideengeschichtlicher Befund 2] 

Somit gilt auf der ersten Ebene (dargestellt in Tafel\ \ref{tafel:igbele_grdhr2}): Von den drei allgemeinen Prinzipien impliziert die These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} zwei ideenhistorische Befunde, die Alternativprinzipien jeweils nur einen. Außerdem wird einzig Mills These nicht durch einen ideenhistorischen Befund widerlegt. Daher zeigt unsere Rekonstruktion -- und nun wechseln wir auf die zweite Ebene --, dass die ideenhistorischen Belege die These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} bestätigen, insofern nämlich diese These als einzige geeignet ist, die empirischen Befunde inferentiell zu vernetzen und so zu systematisieren. Damit schließen wie die Rekonstruktion Mills religionshistorischer Überlegungen als Zwei-Ebenen-Argumentation zugunsten der These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} ab.

\mymnote{Zur Vertiefung}

::: {.vert custom-style="Zur Vertiefung"}

In der oben vorgetragenen Analyse unterstellen wir, dass eine allgemeine These dadurch bestätigt wird, dass sich eine spezielle Folgerung der These als korrekt herausstellt. Diese Auffassung steht in Einklang sowohl mit der rawlsschen Methode des Überlegungsgleichgewichts [vgl. @Pfister2013, S. 135f.] als auch mit dem Konzept der "hypothetisch-deduktiven" Bestätigung. Zwar ist das "hypothetisch-deduktive" Modell der Bestätigung in der wissenschaftstheoretischen Literatur nicht unumstritten (denn aus dem einfachem HD-Modell scheinen sich verschiedene Paradoxien zu ergeben, wie etwa die sogenannte Tacking-Paradoxie, derzufolge ein empirischer Beleg für die Hypothese H auch die Konjunktion von H und einer beliebigen Aussage C, und damit die beliebig gewählte Aussage C stützt, und es ist eine offene Frage, ob und wie sich diese Paradoxien auflösen lassen [@Schurz2008, S.\ 106ff.]). Gleichwohl gehört der HD-Ansatz zum methodologischen Selbstverständnis vieler praktizierender Wissenschaftler und beschreibt einen Großteil der argumentativen Praxis in den empirischen Wissenschaften zutreffend [s. @Zimring:2019, S.\ 51ff.].

:::

Fassen wir die Abschnitte\ 2.4.--2.5. zusammen: Wir haben gesehen, wie die religionshistorischen Beispiele einerseits dazu dienen, einen vagen Gedankengang verständlicher zu machen und so dessen Rekonstruktion anzuleiten. Außerdem hat sich gezeigt, dass sich die Beispiele als eigenständige Begründungen, nämlich als Belege der allgemeinen These [[Keine Bedeutung ohne Diskussion]]{.the} verstehen lassen. Wir haben drei grundsätzliche Strategien zur Analyse solcher nicht-deduktiver Begründungen unterschieden: Argument mit falscher Schlussprämisse (Strategie 1); abgeschwächte Schlussprämisse (Strategie 2); Zwei-Ebenen-Analyse (Strategie 3). Jeder dieser Ansätze führt in unserem Fall zu plausiblen Rekonstruktionen. Dabei hängen die verschiedenen Strategien systematisch miteinander zusammen: die Zwei-Ebenen-Analyse rechtfertigt anhand ihrer detaillierten Rekonstruktion der inferentiellen Beziehungen auf der ersten Ebene die Behauptung auf der Meta-Ebene, dass eine bestimmte Aussage die beste Erklärung für die vorliegenden Belege ist. Deshalb lässt sich die Rekonstruktion als Schluss auf die beste Erklärung (mit abgeschwächter Schlussprämisse) deuten als eine reduzierte Rekonstruktion derjenigen Überlegung, die in der Zwei-Ebenen-Analyse auf der Meta-Ebene stattfindet. Das Argument mit falscher Schlussprämisse (Strategie 1) schließlich korrespondiert eng mit dem entsprechenden Meta-Argument (Strategie 2) und kann folglich als eine effektive Heuristik betrachtet werden.

Welche der systematisch zusammenhängenden Strategien am geeignetsten ist, hängt abermals vom Kontext der Argumentation, in den sich die Analyse einfügen soll, von den konkreten Zielen der Argumentationsanalyse sowie weiteren rein pragmatischen Gesichtspunkten (z.B. Adressaten der Analyse, Umfangsbegrenzung) ab. Wenn etwa die Beispiele, die als begründende Belege gedeutet werden, nicht im Zentrum der Gesamtargumentation stehen und deren Begründungsfunktion nicht zwingend aus dem Text hervorgeht, spricht vieles dafür, es bei einer einfachen Rekonstruktion als Schluss auf die beste Erklärung (Strategie 1 oder 2) zu belassen. Wenn hingegen die zentrale These ganz wesentlich durch exemplarische Belege begründet wird -- wie das in wissenschaftlichen Kontroversen häufig der Fall ist -- und das Rekonstruktionsziel darin besteht, diese Begründungsbeziehungen genau zu verstehen, dann sollten die inferentiellen Beziehungen zwischen der zentralen These, rivalisierenden Gegenthesen und den Beobachtungsaussagen (d.h., den Befunden) erstens en detail rekonstruiert und zweitens auf der Meta-Ebene evaluiert werden.

Fragen zum Weitermachen

(1) Eingangs setzen wir als zentrale These Mills

[Zensurverbot]: Es ist falsch, Personen daran zu hindern, frei ihre Meinung zu äußern.

ohne dies ausführlich zu begründen. In welcher Hinsicht kann diese These präzisiert, eingeschränkt und differenziert werden? Welche dieser Thesendifferenzierungen sind ggf. erforderlich und welche der entsprechend differenzierten Aussagen können Mill zugeschrieben werden? Ist angesichts der Tatsache, dass Mill in Kapitel 2 einerseits epistemische und andererseits moralische Überlegungen anführt, insbesondere eine Differenzierung bezüglich der Art des Verbotes angezeigt? Argumentiert Mill in Kapitel 2 dann überhaupt für eine zentrale These?

(2) Mill nennt am Ende von Kapitel 2 als zentrales Ergebnis die Einsicht, dass "für das geistige Wohlergehen der Menschheit (von dem all ihr anderes Wohlergehen abhängt) die Freiheit der Meinung und die Freiheit der Meinungsäußerung notwendig" (Üdf, S. 366, 40) ist. Was ändert sich an der Rekonstruktion, wenn wir diese These als zentrale These setzen? Wie könnte man ausgehend von dieser These für das [[Zensurverbot]]{.the} oder eine entsprechend differenzierte These (s.\ (1)) argumentieren?

(3) Wie lässt sich der oben nachvollzogene, schrittweise Prozess der Interpretation und Rekonstruktion des Arguments [<Keine Erkenntnis ohne Gründe>]{.arg} (s. Tafeln\ \ref{tafel:keog-1}-\ref{tafel:keog-2}) im Bild des hermeneutischen Kleeblatts beschreiben?

(4) Das Argument [<Keine Erkenntnis ohne Gründe>]{.arg} (s. Tafel\ \ref{tafel:keog-2}) lässt sich alternativ so rekonstruieren, dass die Konklusion (4) mit praktischem Syllogismus aus (1) sowie einer Zwischenkonklusion aus (2) und (3) erschlossen wird. Wie lautet diese Zwischenkonklusion aus (2) und (3)? Und wie muss Prämisse (2) reformuliert werden, sodass transparent wird, wie die Zwischenkonklusion per Kettenschluss folgt?

(5) In Bezug auf die in Tafel\ \ref{tafel:grdhier-323f} skizzierte Gründehierarchie stellen sich etliche Fragen: Wie beziehen sich diese Gründe auf die zentrale These des Abschnitts? Welche Verbindungen bestehen zwischen den zwei bisher unverknüpften Teilen der Gründehierarchie? Wie kommt das Argument [<Keine Erkenntnis ohne Gründe>]{.arg} aus Unterabschnitt C.2.1. ins Spiel? --- Welche weiteren Fragen stellen sich? --- Und wie sind diese Fragen im Lichte einer detaillierten Argumentanalyse und Rekonstruktion zu beantworten?

(6) Wie lässt sich der oben nachvollzogene, schrittweise Prozess der Interpretation und Rekonstruktion des [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} im Bild des hermeneutischen Kleeblatts beschreiben?

(7) Zusätzlich zu den erwähnten Problemen einer sprachphilosophischen Interpretation des [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} (s. Tafel\ \ref{tafel:arg-bed}) stellt sich diese Schwierigkeit: In der sprachphilosophischen Lesart wird Prämisse (1), derzufolge wahre Meinungen bedeutungsvoll sein sollten, höchst unplausibel. Denn wahre Meinung sind zwangsläufig bedeutungsvoll; bedeutungslose Meinungen (Scheinmeinungen, die in Scheinsätzen artikuliert werden) sind weder wahr noch falsch. Wie kann man das sprachphilosophisch verstandene [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} rekonstruieren, sodass diesem Einwand Rechnung getragen wird?

(8) Angenommen wir machen die zwei Lesarten von [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} in zwei gesonderten und geeignet reformulierten Argumenten explizit und schreiben Mill eine pragmatistische Bedeutungstheorie zu, derzufolge -- grob gesagt -- die Bedeutung eines Satzes u.a. darin besteht, dass sein Gebrauch konsistent und in eine außersprachliche Praxis eingebettet ist. Welche inferentiellen Beziehungen etabliert eine solche Bedeutungstheorie zwischen den zwei differenzierten Argumenten? Wie lassen sich diese Beziehungen selbst als weitere Argumente rekonstruieren? Wie genau muss dafür die Bedeutungstheorie präzisiert werden? Welche weiteren Annahmen gehen in die Argumente ein?

(9) Unsere sprachphilosophische Lesart des [<Argument aus der Bedeutung>]{.arg} lautete: Ohne freie Diskussion sind Meinungsäußerungen bedeutungsleere Worthülsen. Eine alternative sprachphilsophische Lesart dazu ist: Ohne freie Diskussion verkennt man die Bedeutung seiner Überzeugungen. Lässt sich ausgehend von dieser Interpretationsidee eine wohlwollendere Rekonstruktion erstellen, die womöglich auch Mills Text besser gerecht wird?

(10) Im Vertiefungskasten zum Argumentieren mit Beispielen finden sich vier Argumente. Welche davon sind nicht deduktiv gültig? Welche Prämissen können in den ungültigen Argumenten ergänzt werden, sodass die Konklusion jeweils deduktiv folgt? Lassen sich zu diesem Zweck auch plausible universelle Prämissen ergänzen? Wie allgemein können solche Prämissen formuliert werden, ohne an Plausibilität einzubüßen?

(11) Welche Prämissen gehen in die Brückenargumente 3 und 4 in der in Tafel\ \ref{tafel:igbele_grdhr1} skizzierten Argumentkarte ein? Warum lassen sich die Brückenargumente 1 und 2 nicht gleichermaßen plausibel rekonstruieren?

(12) Wie lassen sich die Brückenargumente 6 und 8 in der in Tafel\ \ref{tafel:igbele_grdhr2} skizzierten Argumentkarte rekonstruieren?

(13) Betrachten wir Mills religionshistorische Argumentation aus heutiger Perspektive und nehmen als weiteren Befund an:

[Ideengeschichtlicher Befund 5]: Obgleich in einigen weltoffenen und liberalen Metropolen des 20. Jahrhunderts völlig frei und uneingeschränkt öffentlich über atheistische und religiöse Gegenthesen zur christlichen Lehre diskutiert wurde, hat der christliche Glaube dort keine nennenswerte motivationale Kraft entfaltet.  

Wie fügt sich dieser Befund in die Argumentation Mills, insbesondere in die dialektische Struktur in Tafel\ \ref{tafel:igbele_grdhr2} ein? Falsifiziert dieser Befund Mills These? Oder wird Mills These bestätigt? Welche (womöglich in der Rekonstruktion noch gar nicht genannte) These wird von Befund 5 gestützt und wie steht diese gestützte These wiederum zu Mills These?